GEORG-AUGUST-UNIVERSITAT GÖTTINGEN
Psychosoziale Medizin
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Direktor: Prof. Dr. A, Rothenberger
Anschrift: v. Siebold-Str. 8, 37075 Göttingen
Es gibt Grund zur Sorgfalt, aber keinen Grund zur Sorge
Elterninformation der Kinder- und Jugendpsychiatrie Göttingen
zur aktuellen Diskussion um eine angemessene Therapie von
Aufmerksamkeirsdefizit- Hyperaktivitätsstörungen.
(März 2002)
von Christoph Höger Tobias Banaschowski, Friedrich Specht und Aribert Rothenberger
Ist die Verordnung von Psychostimulantien. (v.a. Methylphenidat, Ritalin®, Medikinet®) bei Aufmerksamkeitsdefizit-, Hyperaktivitätsstörungen falsch, weil sie auf fehlerhaften neurobiologischen Annahmen beruht und - zumindest auf lange Sicht- nicht hilft? Schlimmer noch. Führt die Gabe dieser Medikamente zu langfristigen Schädigungen des Gehirns in Form eines Parkinson-Syndroms? Werden dabei wesentliche psychosoziale Einflussfaktoren wie Bindungsstörungen, falsches Erziehun gsverhalten oder für die kindliche Entwicklung ungünstige Umgebungsbedingungen übersehen, deren Korrektur durch Psychotherapie die eigentlich wahre professionelle Hilfe darstellen sollte? Diese Meinung, die sympathisch und beherzigenswert klingt, wird zur Zeit heftig propagiert (z.B. im Buch von Hüther und Bonney 2002: Neues vom Zappelphilipp und von Hüther im Spiegel- Interview 11/ 2002). Sie bezieht ihre Überzeugungskraft jedoch aus einer Mischung aus Spekulationen und Teilwahrheiten.
Aber was stimmt?
1. Ohne Zweifel unterliegen die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen. einem ständigen Wandel, Fehlende Unterstützung durch Verwandte und Freunde, veränderte Vorstellungen über richtiges elterliches Erziehungsverhalten, manchmal materielle Verwöhnung als Ausgleichsversuch für knappe Zeit und eingeschränkte Zuwendungsmöglichkeiten seitens der EItem, veränderte Familienstrukturen, Reizüberflutung durch die neuen Medien und eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten von Kindern sind bedenkenswerte Probleme. Allerdings gibt es bisher keine Untersuchung, die belegt dass solche Einflüsse ursächlich für die Entstehung von Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) in Betracht kommen; sie entfalten ihre Bedeutung vielmehr als mögliche verlaufsbestimmende Faktoren.
Ohne Zweifel werden an Kinder zuweilen Leistungserwartungen gerichtet, denen sie mit ihren bisherigen Erfahrungen unter den verfügbaren Lernbedingungen nur schwer gerecht werden können. Kinder, die motorisch unruhig sind und sich schlecht konzentrieren können, laufen besondere Gefahr unter schulischen Anforderungen vermehrt auffällig zu werden und damit bei ihren Eltern große Besorgnis über ihre Zukunftschancen auszulösen. Die Aussicht durch eine geeignete Medikation diese Sorgen und Probleme lösen zu können ist attraktiv. Die erhebliche Zunahme von Stimulantienverordnungen in den letzten Jahren mahnt aber zur Vorsicht. Diese Zunahme kann sicher zum Teil durch eine erhöhte gesellschaftliche Wahrnehmung entsprechender kindlicher Probleme und durch eine verbesserte Diagnostik erklärt werden. Es kam sich dahinter aber auch, eine teilweise unkritische Verordnungspraxis dieser Substanzen verbergen. die vorschnell Kindern und Jugendlichen eine dann ungeeignete Hilfe zukommen lässt.
2. Gerade deshalb muss der Grundsatz gelten, psychisch gestörten Kindern solche Hilfen nicht vorzuenthalten, die nachgewiesen wirksam sind. Und hier ist die Befundlage eindeutig. Empirische Studien weisen die Stimulantienbehandlung als vorrangige in ihrer Wirksamkeit gesicherte Hilfe bei Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung nach.
Sorgfalt bei der Diagnosestellung einer ADHS ist ganz besonders wichtig, damit Kinder auch die auf ihre Probleme und Störungen zugeschnittene passende Behandlung erhalten können. Hierzu liegen gut begründete, international übereinstimmende und gültige Leitlinien vor. Diese betonen ausdrücklich die Vielschichtigkeit des diagnostischen Prozesses, der sowohl beachten muss, ob andere Störungen vorliegen, als auch Zusammenhänge mit der bisherigen Entwicklung des Kindes und mit möglicherweise verlaufsbestimmenden familiären Einflüssen einschließt. Gleichermaßen wird hervorgehoben, dass die Behandlung nicht einseitig auf Medikamentenverordnung reduziert werden darf, sondern dass geprüft werden muss, weiche anderen Behandlungsformen erforderlich sind.
Nach einer solchermaßen sorgfältigen Abwägung und gemeinsamen Erörterung mit Eltern und -den jeweiligen Entwicklungsstand berücksichtigend- dem Kind muss nach dem gegenwärtigen Wissensstand gut begründet werden, wenn eine Stimulantienbehandlung als nachweislich wirksame Hilfe nicht verordnet werden soll.
3. Im Vergleich zur großen Anzahl von Untersuchungen zu kurzfristigen Wirkungen und Nebenwirkungen der Stimulantienbehandlung fehlen tatsächlich noch Untersuchungen zu Langzeitwirkungen. Immerhin liegen mehrere klinische Studien vor, aus dem sich keine Besorgnisse hinsichtlich Spätschäden ableiten lassen. Insbesondere wurde bisher von kein Fall von Parkinsonerkrankung nach Methylphenidat-Gabe berichtet, Dies wäre durchaus zu erwarten, nachdem spätestens seit Mitte der 70er Jahre Methylphonidat in größerem Umfang verordnet wird. Die Parkinsongefahr ist danach also weder begründet noch belegt, da auch auf neurobiologischer Argumentationsebene Fachleute keine Zusammenhänge sehen und die den Spekulationen zugrundeliegende tierexperimentelle Untersuchung solche Folgerungen ebenfalls nicht zieht.
Eine Ursachenreduktion auf Bindungsprobleme oder andere vermeintliche elterliche Schuld ist weder empirisch gestützt noch therapeutisch hilfreich, sondern reiht sich in wissenschaftliche Irrtümer ein, die außer Leid nichts gebracht haben. Dies enthebt andererseits nicht der Verpflichtung, auf verlaufsbestimmende Entwicklungsrisiken feinfühlig einzugehen und gemeinsam mit Eltern und anderen Bezugspersonen nach Lösungen zu suchen, die die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes verbessern. Die prinzipiell sinnvolle verstärkte Einbeziehung familientherapeutischer Hilfen muss aber für von der ADHS Problematik Betroffene auch Realisierungschancen haben. Hier gilt es, vorhandene Ressourcen - z.B. in Erziehungsberatungsstellen oder bei niedergelassenen Kinder psychotherapeuten - zu nutzen und bei Versorgungsengpässen auf Verbesserung zu drängen. Das darf aber nicht dazu führen, Kindern notwendige medikamentöse Hilfen vorzuenthalten, nur weil die optimale Behandlungsvielfalt nicht angeboten werden kann. Andernfalls wäre der Vorwurf berechtigt zynisch und dogmatisch zu handeln.
Die gegenwärtige Debatte läuft Gefahr, viele betroffene Eltern zu verunsichern und von wirksamer Hilfe abzuhalten. Sie mag aber ihren Nutzen haben, Wenn dadurch die Notwendigkeit einer umfassenden biopsychosozialen Sichtweise auf das ADHS-Problem in Erinnerung gerufen und aktualisiert wird.
Dr.med. Christoph Höger, Oberarzt Universität Göttingen
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
von Siebold-Str. 5
31075 Göttingen
Tel. 0551-392764, Fax 0351-392199, e-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!